Dissoziative Störung
Was ist ein dissoziativer Zustand?
Einen dissoziativen Zustand kann jeder Mensch erleben. Zum Beispiel, wenn man sehr gestresst von einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause fährt, wenn man sehr konzentriert ist – wie beim Lesen eines guten Buches – oder wenn man ganz routinemäßig handelt, wie beim Autofahren. In solchen Situationen vergessen wir alles um uns herum. Bekannte Redewendungen dazu sind u.a. „wie weggetreten sein“, „neben sich stehen“, „wie im Film“, „wie in Watte gepackt“ oder „sich losgelöst fühlen“. Unsere Wahrnehmung, unser Denken, Handeln und Fühlen sind in solchen Situationen sekundenlang voneinander getrennt. Genau das meint der Begriff Dissoziation, der aus dem lateinischen kommt und „trennen oder schneiden“ bedeutet.
Wenn wir das Wesen einer dissoziativen Störung verstehen wollen, ist es hilfreich, sich bewusst zu machen, was uns Menschen als Person ausmacht. Das sind unser Gedächtnis, unsere Wahrnehmung und unser Bewusstsein, also das Wissen über uns selbst. Im Zusammenspiel dieser drei Dinge ergibt sich die individuelle Person mit ihrem Denken, Fühlen, Erleben und Handeln. Bei einer dissoziativen Störung können daher die Wahrnehmung unserer Umwelt aber auch die Selbstwahrnehmung gestört sein. Außerdem kann unser Gedächtnis beeinträchtigt sein. Wir erinnern verzerrt oder nicht korrekt.
Störungen der drei genannten Dinge führen dazu, dass die bewussten und unbewussten seelischen Vorgänge voneinander getrennt, fast schon aufgelöst sind. Es gelingt nicht mehr, uns selbst und unsere Umwelt als eine Einheit zu verstehen. Mitunter werden besonders belastende Ereignisse abgespalten und können nicht mehr vollständig in den Erfahrungsschatz der erkrankten Personen aufgenommen werden. Da stimmt etwas nicht mehr zwischen der betroffenen Person und ihrer Umwelt.
Ursachen der dissoziativen Störung
Auslöser einer dissoziativen Störung sind meist extrem belastende Ereignisse wie ein Unfall, der Tod eines vertrauten Menschen, Naturkatastrophen oder Gewalterfahrungen. Dabei ist es wichtig zu berücksichtigen, dass nicht jeder Mensch nach solchen traumatischen Belastungen solch eine Störung entwickelt. Die seelische Widerstandsfähigkeit der Menschen ist unterschiedlich stark ausgeprägt. Vermutlich spielt dabei einerseits die Vererbung und andererseits frühkindliche Erfahrungen eine starke Rolle. Psychischer Stress kann die Symptome zudem verschlimmern. Die betroffenen Personen erkennen die auslösenden Ereignisse und Belastungen selbst nicht. Es fällt ihnen meist schwer, solche Erklärungsversuche ohne weiteres anzunehmen.
Formen der dissoziativen Störung
Dissoziative Störungen haben kein einheitliches Bild. Es können mehrere Störungsbilder unterschieden werden.
Der Verlust der Erinnerungen für oft wichtige, einschneidende Ereignisse kann Folge einer dissoziativen Störung sein. Meist sind diese Erinnerungslücken nicht vollständig. Mitunter wechseln sie in ihrer Heftigkeit von Tag zu Tag.
Der plötzliche, unerwartete und nicht nachvollziehbare Ortswechsel, der oft wie eine Flucht, wie ein Weglaufen aus dem bisherigen Leben anmutet, ist mitunter Folge einer dissoziativen Fugue (Flucht).
Die Bewegungsstarre oder die deutliche Einschränkung der Beweglichkeit einer Person wird dissoziativer Stupor genannt. Normale Reaktionen auf Berührungen, Geräusche oder Licht können fehlen. Die betroffenen Personen sprechen nicht. Sie sind aber nicht in einem Schlafzustand oder bewusstlos.
Bewegungsstörungen sind die häufigsten dissoziativen Symptome. Lähmungen einzelner oder mehrerer Gliedmaßen, ein unsicherer Gang, die Unfähigkeit, freihändig zu stehen oder zu gehen, können Folgen einer solchen Störung sein. Erst nach Ausschluss körperlicher Erkrankungen und einem ausführlichen Gespräch können sich Hinweise auf eine dissoziative Erkrankung zeigen.
Bei der dissoziativen Störung der Empfindungen treten häufig Symptome wie Taubheitsgefühle, Verlust des Riech- oder Geschmackssinnes, manchmal sogar Schwerhörigkeit, Taubheit oder Erblindung auf.
Dissoziative Krampfanfälle sehen auf den ersten Blick wie ein epileptischer Anfall aus. Eine Ärztin oder ein Arzt kann jedoch Unterschiede erkennen.
Von einem Trance- oder Besessenheitszustand spricht man, wenn es zu einem zeitweiligen Verlust der Einheit einer Person und der Wahrnehmung kommt. Oft verhalten sich solche Personen, als wären sie nicht sie selbst. Manchmal fühlen sie sich von einer „fremden Kraft“ beherrscht. Sie sind gedanklich nur bei sich und nehmen ihre Umwelt nur begrenzt wahr.
Ein sehr umstrittenes Krankheitsbild ist die dissoziative Persönlichkeitsstörung, besser bekannt als multiple Persönlichkeitsstörung. Dabei erlebt und handelt die bzw. der Betroffene als unterschiedliche Personen, die jeweils ihre eigenen Erinnerungen, Gefühle, Vorlieben oder Verhaltensweisen haben. Diese Teilpersönlichkeiten der bzw. des Erkrankten übernehmen dabei wechselnd das Handeln der bzw. des Betroffenen. Nie treten zwei Persönlichkeiten zur selben Zeit auf. Betroffenen ist dieser Wechsel oft nicht bewusst, sie erleben in ihrem Alltag dann vermehrt Erinnerungslücken, da sie keinen Zugang zu der Existenz oder den Erinnerungen der anderen Persönlichkeiten haben. Ob solch eine Störung wirklich existiert ist bei Forscherinnen und Forschern umstritten, zumindest ist sie recht selten.
Wie stellt eine Ärztin oder ein Arzt eine dissoziative Störung fest?
Dissoziative Störungen sind nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen. Es ist wichtig, körperliche Ursachen für die jeweiligen Symptome auszuschließen. Auch gilt es, andere seelische Erkrankungen, wie eine Depression oder einen psychotischen Zustand, auszuschließen. Deshalb wird eine Ärztin oder ein Arzt stets genau körperlich untersuchen und unter Umständen weiterführende Labor- und Röntgenuntersuchungen durchführen. Erst danach wird sie bzw. er – nach ausführlichen Gesprächen – Symptome besser zuordnen können. Oft finden sich in der Vorgeschichte der betroffenen Menschen seelisch extrem belastende Ereignisse, die so unerträglich sind, dass diese nicht als eine Einheit in das Gesamterleben einer Person zu verinnerlichen sind. Solche Verwundungen werden daher nicht mehr erinnert, erlebt und verarbeitet. Es handelt sich dabei im Grunde um eine Schutzfunktion des Gehirns, die im Alltag der Betroffenen jedoch zu erheblichen Problemen und Einschränkungen führen kann.
Wie kann eine Ärztin oder ein Arzt eine dissoziative Störung behandeln?
Grundlage der psychotherapeutischen Behandlung einer dissoziativen Störung ist eine offene, respektvolle und wertschätzende Beziehung zwischen der erkrankten Person und ihrer Behandlerin bzw. ihrem Behandler. Zunächst wird die Ärztin oder der Arzt ausführlich zu Symptomen befragen. Sie bzw. er wird sich für Ihre Lebenswelt interessieren. Nach einer ausführlichen Aufklärung über das Krankheitsbild wird es darum gehen, Betroffene seelisch zu stabilisieren, ihnen Sicherheit zu geben. Erst in einem fortgeschrittenen Stadium der Therapie können mögliche seelische Verwundungen und Ereignisse angesprochen werden. Ziel der Therapie ist es, die abgespaltenen Selbstzustände wieder in das seelische Erleben der betroffenen Personen einzugliedern und sie angstfrei erfahrbar zu machen.
Was können Angehörige tun?
Bitte informieren Sie sich über das Krankheitsbild. Menschen mit einer dissoziativen Störung leiden unter ihrer Symptomatik. Sie produzieren ihre Symptome nicht willentlich oder folgen einem Plan. Begegnen Sie erkrankten Personen ohne Misstrauen, Unbehagen oder Skepsis. Zeigen Sie Ihrer oder Ihrem Angehörigen, dass Sie für sie oder ihn da sind, ohne dass sie ihr oder ihm alle täglichen Aufgaben und Belastungen abnehmen.